Catatech Industries: Die Frage des e-Commerce[1]

 

Im September 1999, trank Marisa Rivera, CIO von Catatech Industries, einem internationalen Hersteller von elektrischen Messgeräten, ihren Espresso und blickte auf den Verkehr vor ihrem Fenster auf der Paseo de la Castellana im Zentrum Madrids. Sie hatte diesen Tag seit längerem kommen sehen, und hatte sich gefragt, wie sie den CEO, Carlos Fernandez, darauf ansprechen sollte. Trotz verschiedener Ähnlichkeiten und ihrer Erfolgsbilanz bisher waren sie und Carlos nie wirklich warm geworden. Carlos hatte sich einfach geweigert, auf ihre Warnungen zu hören, als sie auf die zunehmende Bedrohung, die das Internet für die Firma darstellte, hingewiesen hatte. „Das ist nichts, worum wir uns momentan Gedanken machen müssen.“ Der Screenshot, den Marisa in der Hand hielt, konnte das ändern: es zeigte die Website von „eHerramientas“, einer Firma, von der sie bisher noch nie etwas gehört hatte. Was sie sah, beunruhigte sie zutiefst: eine Produktpalette, die der eigenen sehr ähnelte, über Nacht überall auf der Welt als internationale Expresssendung erhältlich, mit Produktbeschreibungen, Hinweisen über die Einsatzmöglichkeiten und einer Experten-Hotline. Wo kam diese Firma her und wie könnte sie diese Bedrohung Carlos so vorstellen, dass er darauf reagieren würde?

Firmenhintergrund

Catatech wurde 1911 von José Fernandez, Carlos Großvater, gegründet. Die Produkte waren gleich geblieben: professionelle Messgeräte für Elektriker, die durch eine erfahrene und versierte Vertriebsmannschaft verkauft wurden. In vielen Fällen waren die Vertriebler früher selbst Elektriker gewesen. Die Firma hatte anfänglich kämpfen müssen, aber hatte dann angefangen, international zu expandieren. In erster Linie durch kleine, lokale Zukäufe, die dann weiter gewachsen waren. Catatech behielt normalerweise das lokale Management und erlaubte den lokalen (in den meisten Fällen nationalen, in größeren Ländern ggf. auch regionalen) Einheiten ein hohes Maß an Autonomie, so lange die Zahlen stimmten. Obwohl alle Einheiten eine identische Palette an Kernprodukten führte, gab es eine deutliche unterschiede in der Preisstruktur und der Höhe der Preise. Das Serviceniveau unterschied sich zwischen den Ländern und einige Produkte waren an die lokalen Märkte angepasst. In erster Linie, da es unterschiedliche Standards für die Stromerzeugung, -verteilung gab, genauso wie für die Verbindungen und Endgeräte.

1998 belief sich der weltweite Umsatz auf fast 2 Mrd. US-Dollar, mit Fertigungsstätten und Distributionszentren über die ganze Welt verteilt. Die Firma wies ein stetiges Wachstum und einen gesunden Cash-Flow aus. Es wurde allgemein anerkannt, dass es Carlos gelungen war, den von seinem Vater und Großvater eingeschlagenen Weg fortzusetzen und dem Aufsichtsrat und den Analysten unangenehmen Überraschungen zu ersparen. Carlos war unauffällig, ruhig und konservativ; ein Mann ,der stolz auf die Erfolge seiner Firma war, und der gesellschaftlich hoch angesehen war.

Marisa war seit fünf Jahren in der Firma. Vorher war sie zehn Jahre lange als Managerin einer Geschäftseinheit von Hewlett-Packard in Barcelona gearbeitet. Davor war sie Analystin und Researcher für den IT-Markt bei Morgan Stanley in London gewesen. Ihre größte Leistung bei Catatech war die Auswahl und Einführung eines firmenweiten ERP-Systems gewesen, und die Einführung der neuen Technologie dazu zu nutzen, die globale Supply Chain der Firma massiv und erfolgreich zu optimieren. Die Lagerkosten konnten um mehr als 20% gesenkt werden und die Liefertreue drastisch erhöht werden. Unter ihrer Leitung wurden die Desktops firmenweit erneuert und die Vertriebsprozesse durch den Einsatz von Laptops automatisiert.  

Die Projekte waren erfolgreich gewesen, aber Marisa war zunehmend frustriert mit den scheinbar endlosen Diskussionen im Aufsichtsrat, die jeden Schritt des Prozesses begleiteten. Marisa hätte sich gewünscht, dass Carlos einfach eine Entscheidung treffen würde und man dann zum nächsten Punkt übergehen würde. Aber er zog es vor, sich aus der Diskussion heraus zu halten und den Aufsichtsrat am Ende der langwierigen Verhandlungen zu einem Ergebnis kommen zu lassen. Verhandlungen, an denen meist noch weitere Bereiche der Firma beteiligt waren. Marisa sprach selten direkt mit Carlos. Wenn sie es tat, spürte sie eine Spannung zwischen ihnen. Während sie Punkte, die sie störten, direkt ansprach, war Carlos zurückhaltend und eher schweigsam. Nichtsdestotrotz hatte er sie fast immer in ihrer Sichtweise unterstützt und sie hatte nie Probleme gehabt, seine Zustimmung für die jährlichen Budgets für das operative IT-Geschäft sowie Investitionen in die Infrastruktur zu bekommen.

Die IT-Organisation war an drei Hauptstandorten angesiedelt: Madrid, Singapur und Rockford, Illinois. Madrid mit 80 Mitarbeitern war der größte Standort, während Singapur und Rockford jeweils ungefähr 30 Mitarbeiter hatten. Die Firma besaß standardisierte Systeme für Finanzen, ERP und die Produktion, wobei es deutliche lokale Unterschiede dabei gab, wie diese Systeme konfiguriert und genutzt wurden. Aber dies ging nicht soweit, dass die Firma ihre Zahlen nicht rechtzeitig konsolidieren konnte.

Das aktuelle Dilemma

 E-Commerce war für Catatech ein neues Phänomen. Die zentrale Marketing-Abteilung in Madrid war sehr an dem Thema interessiert, und einige informelle Gruppen untersuchten sowohl die Geschäftschancen, die sich daraus ergeben könnten, als auch die technischen Optionen, die zur Verfügung standen. Die US-Tochter, die den Druck durch das Internet am intensivsten spürte, hatte eine eigene Website aufgebaut, auf der die Kunden Produktinformationen erhielten und Händler vor Ort finden konnten. Die Website erfreute sich zunehmender Beliebtheit, wobei eine ganze Reihe von Besuchern von außerhalb der USA kamen.

Marisa hatte die Entwicklung eine ganze Weile beobachtet und war der Auffassung, dass es höchste Zeit war, eine Entscheidung zu treffen, wie mit e-Commerce umgegangen werden sollte. Die zaghafte lokalen Internet-Aktivitäten müssten möglichst bald formalisiert werden. Dies würde bedeuten, den Aufsichtsrat und Carlos zu dem Thema zu sensibilisieren, eine vorläufige Strategie zu entwickeln, ein Projekt aufzusetzen und Budgets bereitzustellen. Marisa war besorgt, denn dies würde eine Abkehr von der bisherigen dezentralen und unabhängigen Kultur des Unternehmens bedeuten. Die starke Stellung der lokalen Vertriebsorganisationen würde einen Konsens über eine Strategie fast unmöglich machen. Lokale Unterschiede in den Systemen, auf denen e-Commerce laufen sollte, würden nur mit Schwierigkeiten und unter hohen Kosten zu implementieren sein. Die einfachste Lösung wäre, wenn eine der Marketing-Abteilungen – beispielweise in den USA – das e-Commerce-Geschäft weltweit betreuen würde. Aber diese würde als Bedrohung für die lokalen Marketing- und Vertriebsaktivitäten angesehen werden.

Catatech muss sich jetzt bewegen, oder wir sind aus dem Geschäft raus!“, dachte Marisa. Sie musste einen Weg finden, wie sie die Dringlichkeit der Situation der Firma – und Carlos – klarmachen konnte. Der normale Prozess würde jahrelange Debatten zu dem Thema bedeuten bis die Firma endlich den Mut gefunden hätte, das Thema zu unterstützen und zu finanzieren. Was sollte sie machen?



[1] Geschrieben von Sarah Kaull und Espen Andersen (self@espen.om) als Grundlage für die Diskussion im Seminarraum statt zur Demonstration von entweder effektivem oder ineffektivem Umgang mit einer Managementsituation. Dieser Fall wurde von Christian Lebrenz, Professor für Human Resources bei der Fachhochschule Koblenz Deutsch übersetzt. Copyright © 1999, 2003 Sarah Kaull und Espen Andersen. Darf für Lehrzwecke genutzt werden so lange diese Fußnote nicht entfernt wird.